Der Brexit bedeutet nun auch: Der Ausstieg Großbritanniens aus dem ERASMUS-Programm. Welche Auswirkungen und Dynamiken bringt die entstehende Kluft mit sich und wie können wir damit umgehen?
Vor genau einem Jahr saß ich im Rahmen der „Europa-Quartett“-Reihe der Heinrich-Böll-Stiftung Bremen auf einem Podium mit der Deutschland-Korrespondentin des britischen Guardian, Kate Connolly. Gegenstand des Gesprächs war ihr Buch „Exit Brexit“, in dem sie u.a. von ihrer Einbürgerung in Deutschland berichtete, die sie, wie viele hier lebende Brit*innen, infolge des Brexits vollzogen hatte. Für mich war es einer von verschiedenen Versuchen, im Laufe der Jahre die Ursachen des Referendums von 2016 und seine Auswirkungen zu verstehen. Jenes Gespräch datiert aus europäischen Prä-Corona-Zeiten, dem Januar 2020, wenige Wochen vor der Verabschiedung des Austrittsabkommens zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union.
Nun haben wir Januar 2021, wenige Wochen nach dem Handelsabkommen zwischen beiden Seiten. Und die ökonomischen Klagen in Großbritannien sind groß, von der viel zitierten Fischerei über die Landwirtschaft bis hin zur Musikindustrie. Marktzugänge, Handelsbeziehungen und das System öffentlicher Subventionen ordnen sich neu: Für viele Branchen bedeutet das massive Umbrüche. Jenseits des im engen Sinne ökonomischen Geschehens gibt es zwei Aspekte, welche die Tiefe des gesellschaftlichen, ja zwischenmenschlichen Einschnitts im Verhältnis von Inselnation und Kontinent auf besonders tragische Weise verdeutlichen:
Zunächst verlassen mitten in der Pandemie viele Arbeitskräfte den britischen Gesundheitssektor. Schon der vergangene Winter brachte einen Exodus der süd- und osteuropäischen Arbeitskräfte aus dem britischen Gesundheits- und Pflegesystem. Man muss sich die Bitterkeit der Entwicklungen vor Augen führen: Das eine Jahr zwischen den beiden genannten Abkommen, in dem für viele Arbeitsmigrant*innen aufgrund der unsicheren Perspektiven klar wurde, dass sie Großbritannien wieder verlassen werden – es war zugleich das Jahr des Ausbruchs der Corona-Pandemie.
Pol*innen, Litauer*innen, Portugies*innen und viele mehr: Wer von ihnen noch geblieben war, stand in dieser schweren Situation an der Seite der britischen Kolleg*innen, um unter schwierigsten Umständen für die Patient*innen da zu sein. Nun hat der Großteil der EU-Arbeitskräfte die Krankhäuser, Arztpraxen und Pflegeheime verlassen, aber die Pandemie ist noch immer da und wütet schlimmer als zuvor. Man stelle sich eine solch kurzfristige und massive Abwanderung aus dem hiesigen Gesundheitssystem vor, um die verheerenden Auswirkungen zu ermessen.
Des Weiteren verlässt mit Großbritannien das Mutterland unserer Lingua Franca nicht nur die Staatengemeinschaft – es steigt auch aus dem ERASMUS-Programm aus. Dafür gab es in den deutschen Medien viel Aufmerksamkeit, denn das Programm gilt zu Recht als eine der größten Erfolgsgeschichten der europäischen Einigung. Ich selbst war 2011/12 als ein solcher ERASMUS-Student an der University of Warwick. Aus dieser Zeit sind Freundschaften in verschiedene europäische Länder erwachsen und solche Bande wird man künftig auch anderswo knüpfen können. Was aber weniger leicht zu kompensieren ist, ist der Verlust des Beitrags, den ein Auslandssemester für die eigene Sprachkompetenz bedeutet. Der Austritt Großbritanniens bedeutet auch eine Beeinträchtigung in einem elementaren Bereich der transnationalen Verständigung: dem Fremdsprachenerwerb.
Das gilt leider auch in die umgekehrte Richtung: Die Bereitschaft von britischen Schüler*innen zum Lernen vom Fremdsprachen sinkt, u.a. weil weniger Eltern den Erwerb einer anderen Sprache als sinnvoll erachten, schließlich sind die Hürden, um ihr Kind während der Schulzeit oder später ins Ausland zu schicken, infolge des Brexits deutlich höher geworden. Kate Connolly schreibt in ihrem Buch, dass 35% der Fremdsprachenlehrer*innen an britischen Schulen EU-Bürger*innen sind. Was bedeutet es kurz- und mittelfristig, wenn auch von ihnen ein großer Teil den Weg zurück in die Heimatländer antritt, wie im Falle der medizinischen Arbeitskräfte?
Der Brexit gleicht dem Aufreißen einer Kluft, die sich in den nächsten Jahren weiter zu öffnen droht. Dieser Prozess hat eine gesellschaftliche Eigendynamik, der die Intentionen der politischen Akteure und die Bilanzen der ökonomischen Transaktionen übersteigt. Diese Grunderkenntnis hat aber, trotz allem, auch seine positive Seite: Wie schnell und wie dauerhaft diese Kluft aufreißt (und wann sie sich wieder zu schließen beginnt), liegt auch an unserer Bereitschaft, gewachsene Bindungen zu erhalten und wiederzubeleben, also an jedem einzeln, der einen Draht zu unseren Nachbarn pflegen kann, oder auch durch Austauschbeziehungen wie z.B. bilateralen Hochschul- oder Städtepartnerschaften.
Der Brexit war kein rätselhafter Schicksalsschlag, sondern die Folge menschlicher Handlungen. Für seine Auswirkungen und den Umgang damit gilt das gleiche.